Warum 60% der SAP-Projekte weiterhin scheitern – und wie KI wirklich helfen kann
Stellen Sie sich vor, Sie stehen als CIO oder CEO vor einem neuen SAP S/4HANA-Projekt. Die Budgets sind genehmigt, die Roadmap steht, die Berater sind gebrieft. Und trotzdem: Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Projekt Budget und Zeitplan sprengt, liegt laut aktueller Horváth-Studie bei satten 60% – und das seit Jahren. Die Berater-Branche tritt auf der Stelle. Warum eigentlich?
Der KI-Hype: Viel Lärm, wenig Substanz
Aktuell erleben wir eine Welle von Anbietern, die KI als Allheilmittel für SAP-Projekte anpreisen. Automatisierte Testfälle, selbstlernende Projektpläne, magische Effizienzsprünge – die Versprechen sind groß, die Substanz oft dünn. Hinter vielen Angeboten steckt weniger konkrete Praxis als vielmehr der Versuch, auf den KI-Zug aufzuspringen.
Doch was sind die echten Probleme in SAP-Projekten? Und welche Rolle kann KI tatsächlich spielen – jenseits von Marketing-Sprech?
Die systemischen Schwächen klassischer SAP-Projektscopes
Nach 25 Jahren Krisenintervention in SAP-Großprojekten sehe ich immer wieder dieselben Muster:
- Fehlende Vollständigkeitsprüfung: Anforderungen werden erhoben, aber selten systematisch auf Lücken geprüft. Die „stillen“ Abhängigkeiten – das, was jeder voraussetzt, aber niemand explizit benennt – gehen verloren. Beispiel: Die Chargenverfolgung in der Produktion, die erst im Test auffällt, weil sie im alten System „einfach da war“,
- Falscher Workstream-Zuschnitt: Prozesse werden nach Organisationseinheiten oder SAP-Modulen geschnitten, nicht nach tatsächlichen Geschäftsprozessen. Das führt zu endlosen Abstimmungsschleifen und widersprüchlichen Anforderungen.
- Falsche Priorisierung: Wer am lautesten ruft, bekommt Ressourcen – nicht unbedingt das, was für das Geschäft am wichtigsten ist.
- Ungenügender Umgang mit Engpassressourcen: Fachliche Experten werden in Meetings „verbrannt“, statt sie gezielt einzusetzen.
- Mangelnde Transparenz von Abhängigkeiten: Entscheidungen werden getroffen, ohne die Auswirkungen auf andere Bereiche wirklich zu verstehen.
KI als Werkzeug – nicht als Zauberstab
Kann KI diese Probleme lösen? Ein vorsichtiges Ja – wenn sie richtig eingesetzt wird.
Was KI leisten kann:
- Vollständigkeitsprüfung: KI kann große Mengen an Dokumenten, Prozessbeschreibungen und Anforderungen analysieren und mit Referenzmodellen abgleichen. So werden Lücken sichtbar, die in Workshops übersehen werden.
- Abhängigkeitsanalyse: Durch Textmining erkennt KI Zusammenhänge zwischen Anforderungen, die sonst verborgen bleiben.
- Optimierung von Workstream-Zuschnitten: KI schlägt Workstream-Strukturen vor, die sich an echten Prozessabhängigkeiten orientieren.
- Priorisierung: KI analysiert Abhängigkeiten und empfiehlt eine Reihenfolge, die sowohl geschäftliche als auch technische Notwendigkeiten berücksichtigt.
Was KI nicht kann:
- Fachliche Expertise ersetzen: KI erkennt Muster, aber sie versteht keine politischen Realitäten oder historischen Hintergründe.
- Mit schlechten Daten arbeiten: „Garbage in, garbage out“ gilt auch für KI. Unvollständige oder widersprüchliche Dokumente führen zu fragwürdigen Ergebnissen.
- Change Management übernehmen: Akzeptanz und Umsetzung bleiben menschliche Aufgaben.
- Fehlerfreie Ergebnisse liefern: KI kann halluzinieren, Muster überinterpretieren und muss immer kritisch geprüft werden.
Definition: Was ist KI-gestützter Projektscope?
KI-gestützter Projektscope bezeichnet den systematischen Einsatz von Künstlicher Intelligenz zur Analyse, Definition und Strukturierung des Projektumfangs, insbesondere bei komplexen SAP-Transformationsprojekten. Dabei fungiert KI als Werkzeug zur Ergänzung menschlicher Expertise, nicht als deren Ersatz.
Kernkomponenten:
- Vollständigkeitsprüfung: KI analysiert große Mengen an Dokumenten, Prozessbeschreibungen und Anforderungen und gleicht diese mit Referenzmodellen ab, um Lücken und „stille Abhängigkeiten“ zu identifizieren
- Abhängigkeitsanalyse: Durch Textmining erkennt KI komplexe Zusammenhänge zwischen Anforderungen, die in traditionellen Workshops übersehen werden
- Optimierte Workstream-Strukturierung: KI schlägt Workstream-Zuschnitte vor, die sich an echten Geschäftsprozessen orientieren, nicht an Organisationseinheiten oder SAP-Modulen
- Intelligente Priorisierung: KI empfiehlt Umsetzungsreihenfolgen basierend auf Abhängigkeitsanalysen und geschäftlicher Relevanz
- Capability-basierter Ansatz: Fokus auf Business Capabilities als stabile, organisationsunabhängige Grundlage für nachhaltiges Scoping
Abgrenzung zu reinem KI-Hype: KI-gestützter Projektscope ist bewusst nicht vollautomatisiert, sondern setzt auf die Kombination von KI-Analyse und menschlicher Validierung. Die KI liefert strukturierte Vorschläge, die von Fachexperten geprüft, bewertet und an die Unternehmensrealität angepasst werden.
Praxis: Wie sieht ein KI-gestütztes Projektscoping aus?
- Strukturierte Vorbereitung: Alle relevanten Dokumente werden gesammelt, Fragestellungen und Hypothesen definiert, Stakeholder identifiziert.
- KI-gestützte Analyse: Die KI prüft auf Vollständigkeit, analysiert Abhängigkeiten, schlägt Workstream-Zuschnitte und Prioritäten vor.
- Menschliche Validierung: Experten prüfen die Ergebnisse, bewerten die geschäftliche Relevanz und passen sie an die Unternehmensrealität an.
- Strukturierte Umsetzung: Die validierten Ergebnisse fließen in die Projektorganisation, Ressourcen werden gezielt eingesetzt, Verantwortlichkeiten klar geregelt.
Nach unseren Schätzungen ergeben sich:
- 40-60% weniger nachträglich identifizierte Anforderungen
- 30-50% weniger Abstimmungsaufwand zwischen Teams
- Gezielte Nutzung/Einsatz von Engpassressourcen
- Mehr Transparenz und weniger Überraschungen in späteren Projektphasen
Warnung vor falschen Versprechungen
- Projekte sind zu komplex für vollautomatisierte Planung.
- KI ersetzt keine Berater mit übergreifender fachlicher und technischer Expertise
- Garantierter Projekterfolg? Ein Märchen.
- Ohne menschliche Validierung sind KI-Ergebnisse wertlos
- Es wird ganz viel Vertrauen in der Organisation verspielt, wenn man halbgare Ergebnisse rausgibt.
Fazit: Pragmatismus statt Hype
KI kann SAP-Projekte besser machen – aber nur, wenn sie als Werkzeug verstanden wird, das menschliche Expertise ergänzt. Die Zukunft gehört nicht den KI-Fetischisten oder Skeptikern, sondern den Pragmatikern, die Technologie und Erfahrung klug kombinieren.
Diskutieren Sie mit: Welche Erfahrungen haben Sie mit KI im SAP-Scopemanagement gemacht? Wo sehen Sie Potenziale, wo Risiken? Wir freuen uns auf Ihre Kommentare.
Christoph Lefkes ist Geschäftsführer der Lefkes Unternehmensberatung und seit über 25 Jahren auf Krisenintervention bei SAP-Großprojekten spezialisiert.
Daniel Goldberg ist Experte für die Optimierung von Geschäftsprozessen, Organisationsentwicklung und Qualitätsmanagement.
Dr. Matthias Berth ist Spezialist in den Bereichen künstliche Intelligenz (KI)- Mustererkennung, Softwarelieferprozesse, Entwicklungsleitung und agiles Projektmanagement.
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